Ansprache zur Vernissage der Ausstellung „Zeit“ der Grenzland-Fotografen im Speicher Gramzow am 4. Mai 2024
Dr. Lars Klingberg
Liebe Mitglieder, Angehörige und Freunde der „Grenzland-Fotografen“, liebe Gäste!
Die Gruppe „Grenzland-Fotografen“ existiert seit 2017, mithin seit sieben Jahren. Sie bezeichnet sich selbst als „Künstlerkollektiv“ und definiert sich als „freier Zusammenschluss von künstlerisch tätigen Fotografinnen und Fotografen“. Sie versteht sich also als lockerer Verbund. Sie ist kein Verein oder eine ähnliche juristische Person. Mit dieser Form hat sie sich dafür entschieden, den Mitgliedern die größtmögliche künstlerische Eigenständigkeit zu belassen.
Gerade im Vergleich zu manch einer der uns aus der Kunstgeschichte vertrauten Künstlergruppen, die sich über die Verfolgung einer gemeinsamen Ästhetik oder ähnliche gemeinsame Interessen zusammenfanden, wird deutlich, dass die derzeit vier Künstlerinnen und neun Künstler der Grenzland-Fotografen nichts dergleichen Übereinstimmendes verbindet: weder eine bestimmte Ästhetik, ein bestimmter Stil oder eine bestimmte künstlerische Technik noch eine gemeinsame politische oder weltanschauliche Positionierung. Auf ihrer Website heißt es lediglich, dass sich die Gruppe durch eine regionale Identität auszeichne, dass nämlich das Oderbruch ihr „primärer Wirkungsraum und zentraler Diskurs-Bezugspunkt“ sei. Auch im Konzept unserer heute beginnenden Ausstellung betonen die ausstellenden Mitglieder ihre Individualität. Es ist dort die Rede von der „individuellen Erfahrung“ und von „ganz persönlichem Ausdruck“.
Wir haben es also mit 13 Individualisten zu tun. Oder etwa nicht? Immerhin frage ich mich bei Ausstellungen der Grenzland-Fotografen schon seit Längerem, ob es entgegen ihrer Absicht dennoch ein künstlerisches, vielleicht sogar stilistisches Profil der Gruppe gibt, das über die regionale Verortung hinausgeht. Und wie könnte dieses aussehen? Ich will versuchen, einige wenige infrage kommende Merkmale zusammenzusuchen – wohlwissend, dass eine solche Zusammenstellung niemals auch nur annähernd vollständig sein kann und dass sie mit der Einschränkung verbunden ist, nicht für alle Gruppenmitglieder gleichermaßen zu gelten. Zunächst, würde ich sagen, besteht eine generelle Gemeinsamkeit im Bestreben, eine künstlerisch anspruchsvolle und auch technisch hochwertige Fotografie zu schaffen. Ausgesprochene Konfektionsware oder gar ausgesprochenen Kitsch habe ich unter den ausgestellten Arbeiten nie gefunden. Vielleicht kann auch die Frage erhellend sein, wofür die Grenzland-Fotografen nicht stehen. Meines Erachtens stehen sie nicht für ein von den Wurzeln der Fotografie abgelöstes fiktionales Kunstverständnis oder auch nur für eine Negation der realen Umgebung. Ein Indiz dafür sehe ich in der Vorliebe der Gruppe für Landschafts- und Natur-Motive, was sicherlich auch mit ihrer Verwurzelung in der Oderbruch-Region zu tun hat. Dann sticht auch immer wieder das Faible einiger Gruppenmitglieder für Schwarz-Weiß-Fotos ins Auge – ein künstlerisches Mittel, das auf die Ursprünge der Fotografie verweist und den künstlerischen Anspruch der Fotografierenden unterstreicht. Ferner ist mir ein gehäuftes Vorkommen von Vanitas-Motiven oder Stillleben aufgefallen – ein Zug, der den Betrachter zu kontemplativer, vielleicht sogar meditativer, jedenfalls aber zu ernsthafter und nachdenklicher Rezeptionshaltung zwingt. Und last but not least möchte ich als letztes Merkmal eine Tendenz zu szenischer Fotografie nennen, denn oftmals tritt in Arbeiten von Gruppenmitgliedern eine natürliche Umgebung – hier wiederum vor allem die Oderbruch-Landschaft – mit künstlichen Gegenständen in Beziehung. Vielleicht fallen ja Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren, bei Ihrem Gang durch die Ausstellung weitere solcher Charakteristiken auf; jedenfalls möchte ich Sie gern ermuntern, nach Derartigem Ausschau zu halten.
Nun zum Thema unser heutigen Ausstellung. Im Pressetext wies Michael Anker darauf hin, dass „Zeit“ als universeller Begriff schon seit Jahren ein Thema ist, das die Grenzland-Fotografen inspiriert. Doch was ist das eigentlich: die Zeit, welche Dimensionen hat sie? In dem von Birgit Oßwald-Krüger verfassten Vorwort des Kataloges zur Ausstellung heißt es:
„In der Wissenschaft wird Zeit die vierte Dimension genannt, berechnet und eingeordnet. In Wahrheit aber lässt sie sich weder fassen noch beschreiben. Immer wieder versuchen wir uns ihr zu nähern, uns in ihr zu verorten, Markierungen zu setzen und Spuren zu hinterlassen.“
Diese Mehrdeutigkeit der Zeit ist kein Phänomen unserer Tage. Der Philosoph Rüdiger Safranski beginnt sein Buch „Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen“ mit einem Zitat aus Hugo von Hofmannsthals Opernlibretto „Der Rosenkavalier“, worin die Zeit als „ein sonderbar Ding“ charakterisiert wird, das einen Doppelcharakter hat:
„Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie.“
Worauf Hofmannsthal hier anspielt, ist die subjektiv unterschiedliche Wahrnehmung von Zeit. Wer intensiv lebt, nimmt die Zeit stärker wahr als wer nur „so hinlebt“. Wer als Mensch das Vergehen der Zeit beobachtet, sieht, wie es Rüdiger Safranski ausdrückt, „einen schmalen Streifen von Gegenwärtigkeit“, der nach beiden Seiten von einem „Nicht-Sein“ umgeben ist: vom „Nicht-Mehr der Vergangenheit“ einerseits und vom „Noch-Nicht der Zukunft“ andererseits. Wer Kinder beim Aufwachsen begleitet hat, weiß, wie schwer es ist, ihnen begreiflich zu machen, was die Zeit ist. Da sie selbst noch keine längeren Zeitabschnitte erlebt haben, kann man ihnen die Zeitdimension nur durch Analogiebildungen vorstellbar machen. Wir Erwachsenen können an unserer Sprache ersehen, dass wir diesen Prozess selber durchgemacht haben: Wir sprechen von „Zeiträumen“, von „kurzer“ oder „langer“ Zeit – womit wir bekunden, dass unsere Zeitvorstellung sich in Analogiebildung zur Raumvorstellung entwickelt hat.
Der Umgang der Menschen mit der Zeit hat sich mit dem gesellschaftlichen Wandel sehr geändert. Heute haben wir es mit einer Tendenz zu tun, die man „Gegenwartisierung“ nennen könnte: einem Triumph der Gegenwart über die Vergangenheit. War es in früheren Zeiten die gesellschaftliche Veränderung, die sich angesichts einer dominanten Vergangenheit zu rechtfertigen hatte, ist es heute umgekehrt: Die Gegenwart gilt als das Normale, überhaupt als die Norm, während die Vergangenheit als das noch Urtümliche, noch nicht Perfekte, noch nicht Normgerechte gilt.
Welchen Aspekten der Zeit haben nun unsere Grenzland-Fotografen besondere Bedeutung geschenkt? Im schon einmal zitierten Vorwort des Kataloges zur Ausstellung schlägt Birgit Oßwald-Krüger die Brücke von diesen Ausgangspunkten zu den individuell sehr verschiedenen Arten, mit denen die Ausstellungsteilnehmer das Thema „Zeit“ in ihren Fotografien verarbeitet haben:
„Ob überlagernde Zeitebenen, Selbstreflexion im Porträt, Zeitreise übers Objekt, Vanitas-Darstellungen, Kontraste von Stillstand und Ruhelosigkeit, ob das Einfrieren des Moments, die Auseinandersetzung mit historischen Orten – jede und jeder hat seine Art mit dem Thema umzugehen.“
Ich kann dieser Aussage nur zustimmen und will abschließend den Versuch machen, Aspekte von Zeit den in der Ausstellung gezeigten Bilderserien zuzuordnen. Aber zuvor noch der Hinweis darauf, dass der Ausstellungsort, in dem wir uns befinden, also der Speicher in Gramzow, eine ideale Grundlage für eine Ausstellung zum Thema „Zeit“ bildet, weil er geeignet ist, mit den künstlerischen Aussagen in Beziehung zu treten. Er ist in doppelter Hinsicht ein typisches Zeugnis der Zeit: Er steht für die Großdimension der Kollektivierung der Landwirtschaft einer bestimmten Epoche, und er beweist durch seine Außerbetriebsetzung in heutiger Zeit, wie sehr solche Bauten, die vielleicht im Bewusstsein ihrer Planer für die Ewigkeit errichtet werden sollten, dem Wandel unterliegen.
Vielen Einzelbeiträgen der Ausstellung liegt ein Zeitverständnis zugrunde, das Vergangenes als Vergängliches dokumentiert und es sozusagen der gegenwärtigen Sicht aussetzt. Das betrifft zuvörderst die beiden Beiträge von Holger Herschel: einmal mit Fotos aus zwei sächsischen Gießereien aus der Wendezeit und das andere Mal mit Flaschen und Konservengläsern aus der DDR von einem Bauernhof im Oderbruch. Ähnliches gilt für Malte Patrioks Bilder wüster Orte in der Uckermark, die uns die Vergänglichkeit und die Furcht vor Zerstörung nahebringen. Die Bilder von Andreas Klug von der „Schlacht“ um die Mainzer Straße in Berlin 1990 verstören durch ihre doppelte Dokumentation eines „Vakuums“ zwischen zwei Zeiten, von denen die eine nicht mehr da und die andere noch nicht da ist. Hingegen ist in den Fotos von Stefan Schick, die den heutigen Zustand des alten jüdischen Friedhofs von Gorzów Wielkopolski dokumentieren, eine zusätzliche Zeitebene durch die Beschriftungen von Christiane Wartenberg mit Zeilen eines Gedichts von Erich Fried implementiert. Unmittelbare Vergleiche verschiedener Zeiten finden sich in den Porträtserien der Ausstellung, nämlich in Stefan Hessheimers Langzeitdokumentation von Selbstporträts, in Elke Brämers Porträts mit Fixpunkten im Lebenslauf von Personen verschiedener Länder und in Jörg Hannemanns Fotos alter Menschen aus dem Oderbruch. Hingegen sind es bei Torsten Zentner, Pia Stach und Falk Wieland nicht Menschen, sondern Naturzustände, die zu verschiedenen Zeiten dokumentiert werden und damit nicht zuletzt auch die Zerstörung der Natur sichtbar machen. Das betrifft den Wasserverlust des Straussees, das Fischsterben in der Oder und die Veränderungen der Natur im Lietzener Mühlental. Im allgemeineren Sinne eine Dokumentation von Vergänglichkeit stellen die Beiträge von Heike Zappe dar, insbesondere „metamorphosis“ (wo die einzelnen Phasen des Lebens gezeigt werden: Aufblühen, Erlöschen, Reife und Verwesung), aber auch der Beitrag „Wandel“ von Jörg Hannemann. Interessante Dekonstruktionen von Zeit (mit Fotos, in denen Bewegungsunschärfen Zeitverläufe imaginieren) finden sich in Beiträgen von Michael Anker und Stefan Schick. Ein gutes Beispiel der von mir genannten Tendenz zur szenischen Fotografie – und damit komme ich zum Schluss – bildet Michael Ankers zweiter Beitrag „Engelstaub“ (in dem wir Engel sehen, die zum Schlafen in den Speicher kommen).
Märkische Oderzeitung, 17.04.2024
Ansprache zur Vernissage der Ausstellung „An den Grenzen von Natur“ der Grenzland-Fotografen in der Kunstgalerie "Altes Rathaus Fürstenwalde" am 14. Januar 2024
Christian Piesk-Patriok
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste und Freunde,
„Gerade ihre Unbeständigkeit macht die Welt so schön.“ Diese Weisheit brachte der japanische Autor und Mönch Yoshida Kenkou im 14. Jahrhundert zum Ausdruck.
Mein Name ist Christian Piesk-Patriok und ich möchte Sie mit diesen Worten auf die Ausstellung „An den Grenzen von Natur“ der Grenzland-Fotografen einstimmen.
Für mich ist es eine besondere Ehre hier in der Kunstgalerie im alten Rathaus zu sprechen, da ich durch und durch Fürstenwalder bin; ich bin hier aufgewachsen, lehre als Studienrat Mathematik und Informatik am OSZ Oder-Spree hier in Palmnicken und wurde hier ein Stockwerk über uns 2019 zum Ehemann eines Grenzlandfotografen.
Das Künstlerkollektiv gründete sich 2017, in dem Jahr, als ich meinen Mann kennenlernte, und seitdem bin ich als Begleiter der Gruppe bei fast allen Ausstellungen dabei gewesen und habe selbst das Oderbruch, den Wirkungsraum dieser Fotografinnen und Fotografen kennenlernen dürfen. So haben sie jährlich seit 2018 bei den Kunst-Loosen-Tagen verschiedene Ausstellungen in der Fachwerkkirche Wilhelmsaue, mit Themen wie Wald und Meine Nähe gezeigt und schließlich im Jahre 2022 diese Ausstellung, die nun das erste Mal in unserem Landkreis zu sehen ist.
Das Oderbruch, in dem das Künstlerkollektiv tätig ist, steht dabei geradezu exemplarisch für eine Region, in welcher der Mensch die Grenzen zur Natur stark verschoben hat. Aus einer Auenlandschaft mit regelmäßigen Überschwemmungen und einem überwältigendem Fischreichtum wurde in relativ kurzer Zeit landwirtschaftlich geprägte Kulturlandschaft, in der Pflanzenanbau und Nutztierhaltung und in neuster Zeit die Energiegewinnung eine dominierende Rolle spielen. Und so wollen uns die Grenzlandfotografen mitnehmen auf eine Reise an den Grenzen von Natur.
Dabei geht es zum Beispiel um die Dualität von Natur und Zivilisation. Denn so, wie in den hier gezeigten Schwarz-Weiß-Fotografien zeigt sich: es gibt Kontraste als Zwischentöne, die verdeutlichen, dass die Grenzen zwischen diesen beiden Welten verschwimmen. So werden wir beispielsweise auch in Makroaufnahmen dazu eingeladen darüber nachzudenken, ob ein verrostetes Geländer, das von der Natur zurückgeholt wird, eigentlich wieder Natur werden kann. Wir sehen Orte, an denen die Natur sich zurückerobert, was der Mensch für sich beansprucht hat und wir sehen natürlich auch Momentaufnahmen, die uns daran erinnern, dass Fotografie wie kein anderes Medium dazu dient, dass sich ständig verändernde Universum für einen Moment festzuhalten und uns zu einem stillen Betrachter werden lässt, der an der Grenze zum nächsten Moment innehält, aber diesen schon lange überschritten hat. Und so wie nicht nur die Bilder durch starke Kontraste, verschiedene Stile und Aufnahmetechniken uns zu einem Innehalten im Betrachten einladen, so laden Sie uns alle doch dazu ein darüber zu diskutieren, was wir eigentlich unter der Natur verstehen. „Die Natur macht nichts vergeblich“ sagte Aristoteles schon im vierten Jahrhundert vor Christus. Mehr als 2000 Jahre später sagte Leo Tolstoi. “Man sollte doch glauben, dass die Berührung mit der Natur, diesem unmittelbaren Ausdruck der Schönheit und Güte, alles Böse im menschlichen Herzen verschwinden lassen müsse.” Doch auch heute noch wird die Natur von radikalen, politischen Kräften als ein totalitäres Wesen mit eigenem Willen dargestellt und der Naturbegriff wird benutzt, um traditionelle Herrschaftsordnungen durchzusetzen und als Argument gegen alternative Lebensentwürfe zu dienen. Ich lade sie deshalb dazu ein die Werke, die unterschiedlicher nicht seien könnten, auf sich wirken zu lassen. Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und tauchen Sie ein in zwölf verschiedene Sichtweisen auf den Begriff Natur und ihre Abgrenzung zu uns. Denn schon der Schriftsteller und Philosoph der Frühromantik Novalis schrieb: „Wir sind zugleich in und außer der Natur.“
Märkische Oderzeitung, 10.05.2023
Märkischer Markt, 17.05.2023
Märkischer Sonntag, 26.02.2023
Märkischer Sonntag, 22.05.2022
Märkische Oderzeitung, 23.05.2022
Quelle: Märkische Oderzeitung, 31.07.2018
Quelle: Märkische Oderzeitung, 02.07. 2018
Quelle: Märkische Oderzeitung, 14.05.2018
Quelle: Märkische Oderzeitung, 19.02.2018